Archäologische Funde in Neuruppin zeugen von der Pogromnacht 1938

06.11.2020

Blick auf die Grabungsarbeiten im Vorgarten des Wohnhauses Bahnhofstraße 4, Foto: T. Dressler/ABD

In Brandenburg konnten erstmalig archäologische Spuren des Pogroms von 1938 gesichert werden. Im April 2020 fand eine vom Förderverein für das Museum Neuruppin e.V. unterstützte archäologische Untersuchung in der Neuruppiner Bahnhofstraße 4 statt. Das Brandenburgische Landesamt für Denkmalpflege und Archäologische Landesmuseum hatte die Grabung auf Anregung des Museumsvereins genehmigt und die Fachfirma ABD-Dressler mit der Durchführung beauftragt.

Mit den neu zu Tage getretenen Funden kann der Nachweis geführt werden, dass die 2006 bei Erdarbeiten im Vorgarten aufgelesenen Scherbenreste aus dem Besitz des Arztes Dr. Alfred Hirsch (1879–1948) stammen. Die Anwohnerin Martina Krümmling hatte die Fundstücke 2006 geborgen und als Dauerleihgabe an das Museum Neuruppin übergeben. Das Wohnhaus befand sich zwischen 1933 und 1945 im Besitz der Familie Hirsch. Während der anti-jüdischen Ausschreitungen in der Pogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 wurde das Ehepaar Lucie und Alfred Hirsch von einer heimischen SA-Truppe in ihrem Haus überfallen, die Wohnung und die Praxis zerstört. In seinem Tagebuch notierte Alfred Hirsch später die tragischen Ereignisse:

„An diesem Tag drang unter dem Vorwande, nach Waffen suchen zu wollen, eine zwölf Mann starke Horde in meine Wohnung, vernichtete alle Möbel, Haushaltsgeräte und Kleidungsstücke, indem sie die Sachen teils zertrümmerten, teils durch die geschlossenen Fenster nach außen warfen und auf der Straße mit Petroleum begoss und verbrannte. Auch meine Fachbibliothek, etwa 500 Bände enthaltend, und die schöngeistige Literatur meiner Frau, etwa 1000 Bücher stark, und deren seit Jugend sorgsam gesammelten Klavier- und Gesangsnoten lagen in Haufen auf dem Hof und auf der Straße. Die von den Zuschauern benachrichtige Ortspolizei war offenbar über das, was geschah, dienstlich benachrichtigt, sie tat nichts dagegen.“

Von diesem Ereignis zeugen heute die gefundenen Scherben des qualitativ hochwertigen Geschirrs, teils mit Blattgold verziertes Porzellan, bleikristallgeschliffenen Gläser, Fensterglas sowie Kuchenbestecke und ein Mokkalöffel mit Monogramm. Unter den Fundstücken befinden sich auch zerscherbte Exemplare namhafter Porzellanmanufakturen und -fabriken sowie französische Fayence-Reliefteller, die auf einen gutsituierten Haushalt wie den der Familie Hirsch hinweisen.   Die Reste des Pogroms wurden offenbar im Vorgarten des Wohnhauses im November 1938 verscharrt und blieben im Boden verborgen. Insbesondere unterhalb des Erkerfensters kamen bei der Grabung nun weitere Scherben zum Vorschein, die die bereits geborgenen Fundstücke ergänzen und somit einen einheitlichen Befundkomplex bilden.

Für den Zusammenhang mit der Pogromnacht sprechen die Übereinstimmungen zwischen den von Alfred Hirsch für die Feuersozietät zwecks Schadensregulierung aufgelisteten Gegenständen und den Grabungsfunden. Ein braunes Apothekerfläschchen und der Rest eines medizinischen Instrumentes können der verwüsteten Arztpraxis zugeschrieben werden. Auf den Privathaushalt der Familie Hirsch könnte der Boden einer Tasse hindeuten. Ob der sechszackige Stern einen Rückschluss auf die jüdische Abstammung Alfred Hirschs zulässt – er war 1910 aus der jüdischen Gemeinde ausgetreten – oder Teil einer Porzellanmarke ist, kann nicht mit Sicherheit gesagt werden.

Der Bestand des Museums Neuruppin befindliche Nachlass von Alfred Hirsch, die Handakten der Staatsanwaltschaft beim Landgericht Neuruppin von 1938 sowie die in den Jahren 2006 und 2020 geborgenen Hausrat-Scherben bieten sowohl eine neue Perspektive auf die Abfolge des konkreten historischen Ereignisses als auch einen authentischen Erinnerungsort. Die Fundobjekte werden nun im Museum Neuruppin zusammengeführt und zukünftig in einer Dauerausstellung zum Thema „Pogromnacht“ ausgestellt.

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